Ein Jahr nach Hanau: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen
Am Freitag, den 19. Februar 2021 jährte sich der rassistisch motivierte Terroranschlag in Hanau zum ersten Mal. Auf der Gedenkkundgebung in München hielt Kerem Schamberger für DIE LINKE eine Rede, die wir hier dokumentieren:
„Wir gedenken heute den Opfern von Hanau, die genau vor einem Jahr von einem Rechtsterroristen ermordet wurden.
Wir gedenken heute Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
Wir stehen heute auch an der Seite der Überlebenden, für die ihr Leben nicht mehr so sein wird, wie vor der Tat. Und wir stehen auch an der Seite der Initiative 19. Februar, in der sie sich organisiert haben, mit der sie versuchen Aufklärungsarbeit zu leisten und sich gegenseitig zu unterstützen.
Warum ist Gedenken so wichtig?
Ferhat Unvar, einer der Ermordeten, schrieb 2015 auf seiner Facebookseite: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“.
Wir stehen heute genau hier, damit man sie nicht vergisst. Damit man all diejenigen nicht vergisst, die in diesem Land ermordet worden sind, weil sie von Nazis und Rassisten nicht als Menschen, die von hier sind, die hier leben, akzeptiert worden sind.
„Ein würdiges Gedenken heißt Kämpfen“, sagte die 96-jährige Holocaustüberlebende Esther Bejarano letzten Sonntag in Bezug auf Hanau – genau deshalb sind wir heute hier auf der Straße!
Wir alle wissen: Hanau ist kein Einzelfall. Das zeigen die Bilder, die in euren Köpfen erscheinen, wenn ich Orte wie Halle, Kassel, Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, und Hoyerswerda nenne.
Oder wenn ich die drei Buchstaben NSU ausspreche.
Es sind deutsche Kontinuitäten, die nicht erst in den letzten 30 Jahren, sondern seit Jahrzehnten in diesem Land mächtig sind.
Filip Goman, der Vater der in Hanau getöteten Mercedes Kierpacz, hat letzte Woche erst erzählt, dass sein Großvater im KZ in Auschwitz ermordet wurde. Er war einer von 500.000 Sinti und Roma, die von den deutschen Faschisten ermordet wurden.
Und heute trifft es sie wieder. Beziehungsweise: immer noch.
Das sind die Kontinuitäten, über die wir sprechen müssen.
Doch diese Kontinuitäten sind viel breiter als nur offen faschistische und rassistische Strukturen und Netzwerke in Deutschland.
Wir müssen auch über andere Dinge reden. Über Dinge, die den Nährboden für solche Strukturen und Taten bieten.
Wir müssen reden über den alltäglichen institutionellen Rassismus in unserer Gesellschaft.
Denn es sind nicht nur die Mörder, die schießen und damit Schuld tragen. Ihre Waffen werden auch von Menschen geladen, die in der Regierung und an zentralen Stellen dieses Staates sitzen.
Ich werde den Namen des Hanau-Täters hier nicht aussprechen. Aber wisst ihr was für ein Buch im Regal im Keller seines Hauses stand?
Es war das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin, der in Berlin Finanzsenator war und erst letztes Jahr aus der SPD ausgeschlossen wurde. Sarrazin hat mit seinem Werk eine Patrone in das Magazin der halbautomatischen Waffe des Täters geladen.
War es nicht ein Innenminister Seehofer, der „bis zur letzten Patrone“ gegen die Einwanderung in die Sozialsysteme kämpfen will und der die „Migration als Mutter aller Probleme“ bezeichnet hat?
Auch er hat mit solchen Äußerungen den Nährboden für Rassismus und Hass gefüttert, und damit wirklich eine Patrone bereitgestellt. Und zwar für den Anschlag.
Ist es nicht auch das Hetzblatt Bild, das im Wechselspiel mit der CDU/CSU – auch hier in München – seine Kampagnen gegen sogenannte kriminelle Clans, die sich angeblich in Shisha-Bars treffen, fährt und damit einen der wenigen Orte stigmatisiert, in denen sich Menschen, die von der Dominanzgesellschaft nicht akzeptiert werden, ungestört treffen können?
Auch eine solche Berichterstattung füttert die rassistischen Ideologien, die letztendlich zu Hanau führen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Regierungsparteien sich gar nicht wirklich vollständig nach rechts abgrenzen können, weil das ja bedeuten würde, dass sie sich auch inhaltlich in ihrer konkreten Politik davon abgrenzen müssten.
Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, einem der Nebenklageanwälte im Lübcke-Prozess, macht das ganz deutlich und ich zitiere ihn hier länger:
„Politiker distanzieren sich von Neonazis oder AfD als Personen oder Parteien, tun das aber kaum konkret inhaltlich. Seit den Achtzigern erleben wir eine geschlossene Front bei der Ablehnung von Asylbewerbern, dem Wunsch, Europas Grenzen hermetisch dicht zu machen, bei der Kriminalisierung von jungen Migranten. Natürlich sagt SPD-Chefin Saskia Esken sinngemäß »Wir sind Antifa«, aber ihr Parteikollege Boris Pistorius lässt in Niedersachsen ein Verbot der »Antifa« prüfen. Bis heute wird beispielsweise ein dauerhaftes Bleiberecht von Opfern rassistischer und neonazistischer Gewalt abgelehnt. Inhaltlich-politisch wird eine knallharte Abgrenzung meist vermieden, auch um die Wählerinnen am rechten Rand nicht zu verschrecken.“
Wir dürfen hier auch nicht über den Zusammenhang von Rassismus und Kapitalismus schweigen, in dessen Grundlage schon Ideologien der Ungleichwertigkeit angelegt sind, damit gerechtfertigt werden kann, warum es wenige Menschen gibt, die reich und so viele Menschen, die arm sind. Es gilt die verschiedenen miteinander verwobenen Ausbeutungs- und Ausgrenzungmechanismen zu sehen und zusammenzudenken. Es ist doch kein Zufall, dass die Jobs, die am schlechtesten bezahlt werden, von denen geleistet werden, die in diesem Land nicht als Menschen von hier gezählt werden. Rassismus hat im Kapitalismus eine gesellschaftliche Funktion; er soll diesem Ausbeutungssystem Legitimität verschaffen.
Liebe FreundInnen, wenn wir über institutionellen Rassismus sprechen, müssen wir auch über die Polizei, den Verfassungsschutz und andere sogenannte Sicherheitsbehörden sprechen. Sie sind für Menschen, die nicht als Deutsche gelesen werden, eher Quellen der UNsicherheit.
Diese Behörden stellen auch eine deutsche Kontinuität dar, nämlich die, dass nach 1945 in der BRD weite Teile der faschistischen Funktionseliten im Staatsapparat einfach weiterarbeiten konnten. Insbesondere in den sogenannten Sicherheitsbehörden des Staates.
Wie sicher können wir uns denn fühlen, wenn die Adressen von Drohbriefen, die mit „Nationalsozialistischer Untergrund 2.0“ unterschrieben sind, von Polizeicomputern abgerufen wurden?
Fast täglich kommen neue rechte Polizeiskandale ans Licht, die ich hier nicht alle aufzählen kann und will. Ich würde sie eigentlich gar nicht als Skandale bezeichnen, denn Rassismus ist strukturell in der Polizei verankert. Er ist in ihr angelegt, weil sie letztlich dazu dient, eben dieses auf Ungleichheit basierende System aufrechtzuerhalten und zu schützen. „Defund the Police“ ist das Schlagwort, über das wir sprechen müssen.
Ich will deshalb im letzten Teil dieser Rede auf die Kette des Versagens der Behörden in Hanua eingehen, die zutiefst verbunden ist mit institutionellem Rassismus und der sich nicht zuletzt am Umgang mit den Angehörigen der Opfer zeigt.
Letzten Sonntag veröffentlichten sie mit ihrer Initiative 19. Februar eine Anklage und stellen Fragen, die auch hier in Münchens Öffentlichkeit gestellt werden müssen:
- Wieso erhielt der Täter Waffenscheine, obwohl er polizeilich bekannt war? Hier ist auch das KVR München in der Mitverantwortung, da er hier über Jahre seinen Zweitwohnsitz hatte und auch seine Waffenzulassungen bekannt waren (Quelle: Video der Initiative 19. Februar Hanau, Min: 26:37; siehe hier)
- Bereits 2019 bedrohte der spätere Täter Jugendliche eines Jugendzentrums in Hanau, er war bewaffnet. Aber die Aussagen der Jugendlichen wurden von der Polizei nicht ernst genommen! Warum?
- Wusste die Polizei, dass die Notausgangstür in der Shisha-Bar – einem der Anschlagsorte – versperrt war und die Menschen nicht fliehen konnten? Hatte sie die Sperrung sogar früher veranlasst oder zumindest geduldet, damit sie bei Razzien leichtere Hand hat?
- Wieso antwortete niemand beim Polizeianruf als Vili Viorel Păun mehrmals dort anrief, während er den Täter mit seinem Auto verfolgte?
- Warum nutzten die Polizisten einen der angeschossenen und schwer verletzten Überlebenden mit dem Namen Said Etris Hashemi, der auf dem Boden vor einem der Anschlagsorte auf einer Bahre lag, als Schutzschild? Damit etwaige Schüsse des Täters sie nicht selber treffen?
- Warum mussten die Angehörigen stundenlang selber nach ihren getöteten Kindern suchen, wobei schon lange klar war, wer die Getöteten waren?
- Wieso wurden die Körper der Toten obduziert, ohne das Einverständnis der Familien zu holen? Armin Kurtovic, der Vater des ermordeten Hamza, sagt: „Als sie die Leiche meines Sohnes ohne meine Einwilligung obduzierten, beschrieben ihn die Beamten mit ‚orientalisches-südländisches Aussehen‘. Er hatte blonde Haare und blaue Augen, er hieß halt nur Hamza. Er war für sie nur ein weiterer Kanake aus der Shisha-Bar.“
So viele Frage, so wenig Antworten.
Auch der Umgang mit dem Vater des Rechtsterroristen erinnert an institutionellen Rassismus:
- Als er letztes Jahr in sein Haus zurückkehrte, in dem auch der Täter gewohnt hatte, wurden die Familien der Opfer nicht darüber informiert, dass er wieder in der Gegend ist.
- Sie wurden auch nicht darüber informiert, dass er die beschlagnahmten Waffen, das Auto und die Internetseite seine Sohnes zurückverlangt und rassistisch gegen die Hinterbliebenen hetzt. Genauso wie sein Sohn zuvor. Das alles mussten sie aus den Medien erfahren.
- Stattdessen gab es sogenannte Gefährderansprachen bei Familien und Freunden der Opfer. Die Polizei warnte sie, dem Vater ja nichts zu tun und keine Rache zu üben.
- Aber es ist der Vater, der eine tickende Zeitbombe ist und jeden Moment explodieren und in die Fußstapfen seines Sohnes treten kann. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass die Angehörigen ihn nun diese Woche wegen Beihilfe zum Mord angezeigt haben.
Eine letzte Sache: Ist das noch als Versagen zu bezeichnen oder schon als mutwillig? Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier hat den Angehörigen bei einem Empfang gesagt, er habe ja noch viel schlimmere Anschläge gesehen. Als die Angehörigen fragten, warum die Familien nach der Tat so schlecht behandelt wurden, versprach er: „Beim nächsten Mal machen wir es besser“
Was für ein Hohn!
Diese Fragen zeigen, dass wir nicht nur gegen die offenen Nazis, sondern auch gegen den institutionellen Rassismus aktiv werden müssen.
Newroz Duman von der Initiative 19. Februar sagte letzten Sonntag: Hanau muss zu einer Zäsur werden – sie hat recht!
Es liegt an uns diese Zäsur von unten zu erzwingen – denn es gibt niemand anderen, der das für uns macht!“